50 Millionen DM, das waren einmal “Peanuts” – 30 Milliarden €, das ist weniger als ein Staubkorn

Ein Finanzierungsloch von über 30 Milliarden € bei der Deutschen Rentenversicherung wird verschwiegen. Eine bundesweit verbreitete Pressemitteilung dazu wird ignoriert. Es geht um nicht weniger als ein totales Medienversagen. Die Betrogenen sind 38 Millionen Beitragszahler.

 

Im Jahr 1994 bezeichnete Hilmar
Kopper als Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank offene Rechnungen eines
Pleitebaulöwen von 50 Millionen DM als „Peanuts“. Das löste öffentliche
Empörung aus und „Peanuts“ wurde zum „Unwort des Jahres“ erkoren.

2019 erklärt die Vorstandsvorsitzende
der Deutschen Rentenversicherung (DRV), Anneli Buntenbach, eine Unterdeckung im
Haushalt von 30 Milliarden € – und löst damit gar nichts aus. Die Relevanz für
die Pressemedien in diesem Land war Null. Es war weniger als ein Staubkorn.

 

Wie kann das sein?

Mit etwas Sarkasmus könnte man
vermuten, dass es Topp-Meldungen gegeben hätte, wären die „Experten“
Börsch-Supan oder Raffelhüschen oder die Bertelsmann-Stiftung die
Nachrichtengeber gewesen. Aber es war ja nur die Vorsitzende der Deutschen
Rentenversicherung, die nicht weniger als 58 Millionen Mitglieder zählt.

Aus der Pressemitteilung vom 27.06.2019: „Buntenbach forderte abschließend, dass Leistungen der Rentenversicherung, die wie die Mütterrente nicht auf Beiträgen beruhen, vollständig aus Steuermitteln zu finanzieren seien. Jüngste Berechnungen hätten gezeigt, dass derzeit eine jährliche Unterdeckung nicht beitragsgedeckter Leistungen durch den Bund in Höhe von 30 Milliarden Euro bestehe. Buntenbach unterstrich daher die Forderung nach einer systemgerechten Finanzierung.“ (siehe auch Thema: Versicherungsfremde Leistungen)

 

Nichts Genaues weiß man?

Das Sozialministerium
beantwortet parlamentarische Anfragen oder Auskunftsersuchen der Presse nach
folgendem Muster:

„Die nicht beitragsgedeckten
(„versicherungsfremden“) Leistungen lassen sich nicht exakt beziffern, denn es
gibt in Wissenschaft und Praxis keine eindeutige und konsensfähige Abgrenzung
dieser Leistungen.… Es gibt somit weder eine Statistik zum Umfang der nicht
beitragsgedeckten Leistungen, noch lassen sie sich dem Kontenrahmen der Träger
der Deutschen Rentenversicherung entnehmen.“

 

Man weiß es aber ziemlich
genau:

Denn im Jahr 2004 wurden die
nicht beitragsgedeckten Leistungen für das Jahr 2003 definiert und deren Höhe ermittelt.
Das geschah durch Fachleute des Bundessozialministeriums und des Verbandes Deutscher
Rentenversicherungsträger (VDR, das ist der Vorgänger der DRV). In dem
abgestimmten Gutachten wird eine Unterdeckung von 23,5 Mrd. € (12,0% der
Rentenausgaben) ausgewiesen.

Die nächste systematische Erhebung (DRV 1/2012) erfolgte erst 2012. Für das Jahr 2009 wurde der Unterdeckungsbetrag mit 13,0 Mrd. € (6,4% der Rentenausgaben) berechnet. Große Einwände aus „Wissenschaft und Praxis“ gab es nicht (*). Das mag auch daran gelegen haben, dass für das Jahr 2017 ein Fehlbetrag von lediglich 1,4 Mrd. € (0,5%) prognostiziert wurde.

 

Und nun kam die Mitteilung, dass die Unterdeckung im Jahr 2017 nicht 1,4 Mrd €, sondern sage und schreibe 31,3 Mrd. € (12,3%) betragen habe. Sämtliche gesamtgesellschaftlich begründeten Rentenreformen wurden so gut wie ausschließlich aus den Beitragseinnahmen finanziert.

Die Finanzminister lehnten die Finanzierung
aus dem Bundehaushalt kategorisch ab. Sie konnten sich in ihren „schwarzen
Nullen“ sonnen. In Wirklichkeit funktioniert das nur, weil sie auf Schattenhaushalte
bei den Sozialversicherungen zurückgriffen (**). Tendenz steigend.

 

Und man könnte es noch exakter
wissen:

Die einzelnen Anspruchstatbestände und damit die rechtliche Grundlage der Renten sind im Prinzip genau bekannt. Jede/Jeder Rentenversicherte kann das an der genauen Auflistung in seiner/seinem individuellen Rentenversicherungsverlauf erkennen.

Nur werden die Ausgaben dann
nicht mehr entsprechend kontiert und verbucht. Jedenfalls wird es nicht in der
jährlichen Rechnungslegung der Rentenversicherung dargestellt. Man könnte die
Konten ohne weiteres führen. Man will es nicht, weil im Trüben gut zu fischen
ist. (Wieso ist das eigentlich noch nie vom Bundesrechnungshof beanstandet
worden?)

 

Das Spiel mit gezinkten
Karten:

Auch die folgende Behauptung
wird stereotyp vom Sozialministerium in die Welt gesetzt:

„Hinsichtlich der
angesprochenen „Deckungslücke“ ist festzuhalten, dass die an die gesetzliche
Rentenversicherung gezahlten Bundesmittel mehrere Aufgaben erfüllen. Dazu zählt
zwar auch die pauschale Abgeltung nicht beitragsgedeckter Leistungen.
Die Funktion der Bundeszuschüsse geht allerdings weit über die Erstattung
einzelner Leistungen bzw. Leistungsteile hinaus. Mit der allgemeinen
Sicherungsfunktion der Bundeszuschüsse gewährleistet der Bund die dauerhafte
Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung
…“

Das ist an Absurdität nicht zu
übertreffen. Die Abgeltung der nicht beitragsgedeckten Leistungen macht bereits
eine Unterdeckung von 31,3 Mrd. € aus. Was soll denn da noch für die allgemeine
Sicherungsfunktion übrig bleiben.

 

Warum wird über diesen Skandal
nicht berichtet?

Gibt es in den Redaktionen keine
Expertise, um diese Zusammenhänge und Entwicklungen zu erkennen und zu
hinterfragen? Gibt es ein Zurückschrecken, weil die Dimension zu gewaltig ist (too
big, to be the truth)? Gibt es Journalisten oder Herausgeber, die gar kein
Interesse an einer Berichterstattung haben, weil sie die Schwächung der gesetzlichen
Rentenversicherung als zielführend ansehen (denn damit steigt ja der Druck, privat
vorzusorgen und die Interessen der Finanzindustrie zu bedienen)?

Wahrscheinlich ist es eine
Mischung aus allem.

Ein weiterer Grund ist, dass die DRV mit ihren Berechnungen und Forderungen sehr zurückhaltend umgeht. So wird die vorhandene detaillierte Berechnung der Unterdeckung selbst bei Presseanfragen nicht herausgegeben (Dokument hier).

Zu befürchten ist, dass die
politischen Abhängigkeiten des Spitzenpersonals bei der DRV die
Konfliktbereitschaft stark bedämpfen.

 

Schluss mit dem Verschweigen
und Vertuschen!

Dieser Skandal ist ja auch unmittelbar mit der Geheimhaltungsverpflichtung der Rentenkommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ zu sehen. Die großen gesellschaftlichen Probleme mit Verschweigen und Vertuschen zu behandeln, ist antidemokratisch. Wer das betreibt und dann den Zulauf bei den rechten „Vereinfachern“ beklagt, ist einfach nur scheinheilig.

Es ist höchste Zeit aufzustehen!

(Reiner Heyse, 29.09.2019)

 

(*) Übrigens haben Studien des
neoliberalen Think Tanks Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und des
Steuerzahlerbundes im Jahr 2011 diese Zahlen bekräftigt. Beide kommen zu der
wenig überraschenden Forderung, die Lücke nicht durch mehr Steuergelder zu
schließen, sondern die Ansprüche der Rentner zu reduzieren.

(**) siehe imk-Studie der Hans Böckler Stiftung (April 2018).