Grundrente: Ergebnis mit Schwindsucht, aber gesteigerte Begeisterung

Am 10.11.19 geben Söder, Kramp-Karrenbauer und Dreyer den “Grundrentenkompromiss” bekannt.

Schon der Gesetzentwurf zur Grundrente hatte grundlegende Mängel (siehe Artikel aus dem Februar). Jetzt gibt es eine Einigung in der Regierungskoalition, die kein Anlass zum Frohlocken ist. Mit Vermeidung von Altersarmut hat das nichts zu tun und mit einer Anerkennung von Lebensleistung nur sehr selektiv.

 

Im Mai sah
der Gesetzentwurf des Sozialministeriums noch vor, dass 2021 etwa 2,9 Millionen
Menschen Grundrente erhalten könnten. Der „Kompromiss“ geht jetzt von 1,2 bis
1,5 Millionen aus. Die Kosten wurden von ursprünglich geplanten 3,8 Milliarden
Euro auf 1,1 bis 1,5 Milliarden Euro fast auf ein Drittel gekürzt. „Keine
Bedürftigkeitsprüfung“ wurde in Einkommensprüfung geändert.

Dass die
Ergebnisse dieser Kürzungsarie als große Reform gefeiert werden, die nun auch
für die Rettung der Großen Koalition herhalten muss, ist überaus merkwürdig.

Diese „große
Reform“ ist lediglich ein Reformkrümelchen, das bei genauerer Betrachtung
vergiftet ist, weil es viel Ungerechtigkeiten beinhaltet, zu vielen
Enttäuschungen führen wird und Spaltungspotential besitzt.

Zunächst sind
die Voraussetzungen, um eine Grundrente zu erhalten hoch:

 

35 Jahre
Beitragszeiten sind erforderlich
. Damit waren bis vor kurzem „langjährig
Versicherte“ definiert. Jetzt werden für die Grundrente die Zeiten der
Arbeitslosigkeit einfach gestrichen.

35
Beitragsjahre wurden von 33% aller Rentnerinnen und Rentner schon nach der
alten Berechnung nicht erreicht – die Zahl wird noch einmal um einiges
angestiegen sein (eine Statistik dazu fehlt noch).

Was besonders auffällt: Über 60% der Rentnerinnen in den alten Bundesländern haben weniger als 35 Beitragsjahre. Diese Frauen können die Bewertung, dass vor allem Frauen von der Grundrente Gutes hätten, nur als Verhöhnung ansehen (Details im Artikel aus dem Februar).

 Die zweite
zentrale Voraussetzung
ist: die Rente darf nicht weniger als 30% und
nicht mehr als 80% von der Durchschnittsrente
betragen. Aktuell beträgt die
Durchschnittsrente bei 35 Beitragsjahren 1.157€. Davon 30% gerechnet ergeben
347€. Wer weniger als 347€ Rente bezieht, ist zu arm für die Grundrente! Und
das, obwohl er/sie 35 Jahre eingezahlt hat.

Bei z.B. 45 Beitragsjahren wird das noch absurder: Die Durchschnittsrente beträgt dann 1.487€. Davon 30%, ergeben 446€. Daraus folgt, dass Menschen, die 45 Jahre Beiträge geleistet haben, aber eine Rente unter 446€ beziehen, von der Grundrente ausgeschlossen sind.

Auch diese
30%-Hürde ist ein Ergebnis des gefeierten Kompromisses. Ursprünglich (Februar)
waren 20% geplant, daraus wurden im Gesetzentwurf (Mai) 24% und nun im November
die 30%.

 

Eine weitere Kompromiss-Gehässigkeit ist die unmittelbare Kürzung des Grundrentenzuschlags um 12,5% (die komplizierte Berechnung des Zuschlags wurde im Februar-Artikel erläutert).

In den
Beispielrechnungen wird immer eine Friseurin angeführt, die 40 Jahre gearbeitet
hat und in der Zeit durchschnittlich 40% des gesellschaftlichen
Durchschnittseinkommens verdient hatte. Das würde aktuell zu einer Altersrente
von 528,80€ führen (40 Jahre x 33,05€ x 40%). Vor dem Kompromiss hätte sie
einen Grundrentenzuschlag von 462,70€ erhalten, danach waren es 12,5% weniger,
also 404,86€. Die erwartete Grundrente für Kollegin schrumpfte am letzten
Sonntag um 58€ von 992€ auf 934€.

 

Erwähnenswert
ist auch, dass es sich bei allen publizierten Grundrentenzahlen immer um
Bruttowerte handelt. Bei den Rentenbeträgen müssen immer ca. 11% für Kranken-
und Pflegeversicherungsbeiträge abgezogen werden. Die besagte Friseurin erhält
also nicht 934€, sondern lediglich 831€ überwiesen.

Die
Grundsicherung wird dagegen immer netto berechnet. Der Grundsicherungsanspruch
beträgt derzeit zwischen 820 und über 900 € (Summen differieren wegen der
regional unterschiedlichen Wohnkosten). Selbst in dem Fall der Friseurin, der
den maximal möglichen Grundrentenzuschlag darstellt, ist der geldliche
Unterschied zur Grundsicherung kaum der Rede wert.

 

Obwohl die
jetzt verhandelte Grundrente Millionen Bedürftige ausschließt und für viele
Begünstigte nur bescheidene bis keine geldlichen Vorteile gegenüber der
Grundsicherung bringt, wird sie von Parteien, Sozialverbänden und
Gewerkschaften über den grünen Klee gelobt. Nur eine kleine Auswahl:

„Die Koalition zeigt damit, dass sie handlungsfähig ist und anerkennt die
Lebensleistung von nahezu 1,5 Millionen Beschäftigten.“ (DGB)

„Es ist sehr positiv, dass die Renten von bis zu 1,5 Millionen Menschen automatisch
aufgewertet werden.“ (Sozialverband VdK)

“Wir begrüßen den hart errungenen Kompromiss zur Grundrente. Nach 35
Arbeitsjahren darf niemand gezwungen sein, im Alter zum Sozialamt zu gehen.“ (IG
Metall
)

„Wer 35 Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt hat, hat künftig Anspruch
auf die Grundrente, wenn ansonsten die Rente zu niedrig wäre.“ (SPD)

 

Die LINKE beschränkt sich auf Detailkritik und versäumt es, das
Konzept für eine Mindestrente als einzig richtige Alternative in die Diskussion
zu bringen.

Eine Mindestrente, die über der Armutsgefährdungsschwelle liegt, könnte
aktuell und dauerhaft Altersarmut zurückdrängen. Aktuell wäre das eine Rente
von ca. 1.100€ netto.

Dass eine derartige Mindestrente möglich ist, zeigen
die Mindestrenten in Österreich:

Wer 15 Beitragsjahre nachweist bekommt mindestens
1.035€ Rente,

wer es auf 30 Beitragsjahre bringt, erhält 1.145€ netto.

 

Nachtrag: Die weiteren Punkte des am 10.11. ausgehandelten „Kompromisses“ (Mehr steuerliche Förderung bei Betriebsrenten; Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags; Leichte Korrekturen bei Doppelverbeitragungen von Betriebsrenten; Einrichtung eines 10 Mrd. Zukunftsfonds) haben mit der Grundrente nichts zu tun und werden deshalb an dieser Stelle nicht behandelt.

(Reiner Heyse, 12.11.2019)