Zwei verborgene Skandale in einem – ja haben wir denn schon „1984“?

Zwei verborgene
Skandale in einem – ja haben wir denn schon „1984“?

Ein Sozialstaatsskandal, der zugleich ein Presseskandal ist.

Es geht mittlerweile um die gigantische Summe von jährlich 32 Milliarden €. Die Deutsche Rentenversicherung spricht von einer Unterdeckung ihres Haushalts. Der Bund lässt die Rentenversicherungs-Beitragszahler für versicherungsfremde Leistungen immer mehr zahlen. Darüber wird einfach geschwiegen. Sämtliche Medien verweigern die Berichterstattung, es wird nichts hinterfragt, es wird ignoriert. (siehe auch Artikel aus dem September 2019 und Juli 2019)

Die nicht beitragsgedeckten Leistungen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) betrugen 2017 bereits 99,1 Milliarden Euro. Durch “Bundeszuschüsse” (*) wurden lediglich 67,8 Mrd. € ausgeglichen. Bleibt eine Differenz von 31,3 Mrd. €. Diese Lücke, Unterdeckung genannt, wird durch Beitragsleistungen der Rentenversicherten geschlossen (was nicht beitragsgedeckte Leistungen sind, wie sie ermittelt werden und Erläuterungen zur Grafik – siehe weiter unten).

 

Am 27.06.2019 erklärt die Vorstandsvorsitzende der
Deutschen Rentenversicherung (DRV), Anneli Buntenbach (aus der
Pressemitteilung): „Buntenbach forderte
abschließend, dass Leistungen der Rentenversicherung, die wie die Mütterrente
nicht auf Beiträgen beruhen, vollständig aus Steuermitteln zu finanzieren
seien. Jüngste Berechnungen hätten gezeigt, dass derzeit eine jährliche
Unterdeckung nicht beitragsgedeckter Leistungen
durch den Bund in Höhe von 30 Milliarden Euro
bestehe. Buntenbach unterstrich daher die
Forderung nach einer systemgerechten Finanzierung.“

Reaktion oder
Berichterstattung sämtlicher Medien: Null – Nichts.

 

Ein halbes Jahr später wiederholte
Alexander Gunkel, alternierender
Vorsitzender des Bundesvorstandes der Deutschen Rentenversicherung auf der
Bundesvertreterversammlung am 5.12.2019 in Berlin:

„Warum legen wir als Rentenversicherung so viel Wert auf die richtige Art der Finanzierung? Beiträge sind stets der Preis für eine Versicherungsleistung, d. h. es muss eine Beziehung zwischen Preis und Versicherungsleistung bestehen. Fehlt diese Beziehung, wirken Beiträge wie eine Steuer für Beitragszahler. Eine solche Verletzung der Äquivalenzbeziehung von Beitrag und Versicherungsleistung wird von den Versicherten als ungerecht empfunden…

Dies gilt übrigens für die zusätzlichen Mütterrenten ganz
besonders, denn hier müssen die heutigen Beitragszahler nicht nur für eine
Leistung einstehen, für die niemals Beiträge gezahlt wurden, sondern sie müssen
diese Leistungen sogar für Personen bezahlen, die nie auch nur einen Euro in
die Rentenversicherung eingezahlt haben.

Richtigerweise
sind daher Leistungen, die nicht auf Beiträgen beruhen, vollständig aus
allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren.
Damit
werden alle Bürgerinnen und Bürger entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an
diesen Ausgaben beteiligt, während Beiträge zur Rentenversicherung im
Wesentlichen nur von Arbeitgebern und Beschäftigten gezahlt werden.“

Reaktion oder
Berichterstattung sämtlicher Medien: Null – Nichts.

 

Der Sozialbeirat der Bundesregierung verlangt seit Jahrzehnten in regelmäßiger Dringlichkeit die sachgerrechte Finanzierung von beitragsgedeckten und nicht beitragsgedeckten Leistungen. So z.B. 1995: „Der Sozialbeirat hat mehrfach darauf hingewiesen, daß eine Verwendung von Beitragseinnahmen zur Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben, die den Rentenversicherungsträgern übertragen wurden, ökonomisch und gesellschaftspolitisch höchst problematisch ist. Auch hat er immer wieder auf neuere Fehlentwicklungen dieser Art hingewiesen.“

Oder im letzten Bericht vom 27.11.2019: „Der Sozialbeirat sieht es als unbefriedigend an, dass die Frage einer sachgerechten Aufteilung der Finanzierung der Rentenversicherung in Steuer- und Beitragsanteile bis heute ungelöst ist. Die Akzeptanz des Rentenversicherungssystems hängt auch daran, dass die Beitragszahler nicht zur Finanzierung von Aufgaben herangezogen werden, die nicht dem versicherungstypischen Ausgleich dienen.

Der Sozialbeirat hält es
daher für geboten, die Frage der sachgerechten Finanzierung der
Rentenversicherung nach Beitrags- und Steueranteilen grundsätzlich zu klären
und nicht weiter diskretionär zu beantworten.“

 

Diskretionär – oder nach freiem Ermessen – ignorieren die Bundesregierungen, speziell die Finanz- und Sozialministerien, seit Jahrzehnten die Fragen. Es gibt anscheinend auch keine Kontierungsvorschriften, welche Renten auf Grund welcher rechtlichen Tatbestände ausgezahlt werden. Eine Rechnungslegung, die nicht nur schlampig und undurchsichtig, sondern politisch offensichtlich so gewollt ist. Die Finanzminister können so relativ ungestört Schattenhaushalte in riesigen Ausmaßen verstecken. Das sollte den Bundesrechnungshof interessieren, tut es aber erstaunlicherweise nicht.

 

… und die Presse schweigt.

Ein Finanzvolumen von jährlich über 30 Milliarden € findet keine Zeile, keine Sendeminute in den Medien. Es gibt keine Berichterstattung, keine Hinterfragung, keine Kritik. Es gibt einfach nur Schweigen. „1984“ – Georg Orwell hat vor 70 Jahren beschrieben, wie Widerstand gar nicht erst entstehen kann, wenn Fakten verschwiegen oder unterdrückt werden. Hinzu kommt die systematische Verdrehung von Tatsachen („2+2=5“) – dazu weiter unten: „nie waren Rentner so billig wie heute“.

 

Auch ohne „big brother“ bemühen zu müssen, bleiben die Fragen:

Ist das Thema zu komplex?

Wirkt der Herdentrieb – „wenn keiner berichtet, kann es nicht
wichtig sein“?

Ist es das Ergebnis interessengeleiteter Einflussnahmen?

Eine
Kombination aus diesen Gründen?

Auf
jeden Fall ist die vollständige Ausblendung des wachsenden Problems ein
Phänomen, dessen sich auch Medienwissenschaftler einmal annehmen sollten.

 

Zu den Fakten:

Eine systematische und aufwändige Ermittlung der nicht beitragsgedeckten Leistungen wurde für 1995 vom VDR (Verband der deutschen Rentenversicherungsträger) vorgenommen. Damals waren die Einigungskosten („West-Ost-Transfers“) und Leistungen der Hinterbliebenenversorgungen (Witwen-/Waisenrenten) noch umstritten und wurden ausgeklammert. Auch mit diesen Auslassungen wurden die versicherungsfremden Leistungen mit 102,2 Mrd. DM berechnet. Der „Bundeszuschuss“ betrug lediglich 59,5 Mrd. DM, so dass die Unterdeckung von 42,7 Mrd. DM aus Beiträgen geschlossen werden musste.

 

Für das Jahr 2003 wurde dann mit Auftrag des Haushaltsausschusses des Bundestages erneut eine Bewertung und Berechnung der nicht beitragsgedeckten Leistungen durchgeführt. Es sollten dazu auch Prognoserechnungen für die Jahre 2007 und 2017 durchgeführt werden. Eine gemeinsam vom VDR und Bundessozialministerium durchgeführte Analyse erweiterte die 1995 abgegrenzten Tatbestände um die „West-Ost-Transfers“ und anteilige Kosten der Hinterbliebenenversorgung (hier das Dokument aus 2004). (**)

 

Ergebnis
für 2003 (siehe auch Grafik): die versicherungsfremden Leistungen betrugen 77,4
Mrd. €, die „Bundeszuschüsse“ aber nur 53,9 Mrd. €, so dass 23,5 Mrd. € aus
Beitragsmitteln getragen werden mussten.

Für
2007 wurden nur noch 69,8 Mrd. € für versicherungsfremde Leistungen prognostiziert
(sinkende Kriegsfolgelasen und weniger Renten vor 65 ohne Abschläge), die
Unterdeckung sollte auf 13 Mrd. € gesunken sein.

Bereits
2017, so die Prognose aus 2004, sollte die Unterdeckung auf 1,4 Mrd. € gesunken
sein.

 

Diese beruhigende Prognose wurde durch die nächste Analyse der DRV, die im Jahr 2012 für das Jahr 2009 durchgeführt wurde, offensichtlich bestätigt. Die ermittelten Werte für 2009 bestätigten, bis auf die „West-Ost Transfers“, die für 2007 vorausberechneten. Es gab wohl keinen stichhaltigen Grund, die Prognose für 2017 zu revidieren (hier das Dokument aus 2012).

 

Doch dann kam alles anders und im Sommer 2019 platzte eine Bombe, die niemand wahrnehmen wollte (hier noch einmal die Grafik, in der die Ist-Daten der drei Analysen zusammengefasst sind:)

Eine im April 2019 nach der Methodik der Untersuchungen von 2003 und 2009 eröffentlichte Berechnung ergab für 2017 ein Volumen der versicherungsfremden Leistungen von 99,1 Mrd. € (Prognose war: 77,9 Mrd. €), dagegen betrugen die „Bundeszuschüsse“ lediglich 67,8 Mrd.€ (vorausberechnet waren 76,5 Mrd. €).

Im Ergebnis wurden im Jahr 2017 nicht 1,4 Mrd. €, sondern 31,3 Mrd. € aus den Rentenversicherungsbeiträgen genommen, um die nicht gezahlten Kompensationsleistungen des Bundes auszugleichen. 31,3 Mrd. €, das sind 12,3% der gesamten Rentenausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung.

In dem rechten Balken der Grafik ist dargestellt, wie die „Sondersteuer“ der Beitragszahler steigt, wenn die Belastungen der „Mütterrente II“ aus 2019 in die Werte von 2017 eingerechnet werden. Dann beträgt die Unterkompensation des Bundes bereits 34,4 Mrd. € (hier das Dokument aus 2019).

 

Die Presse schweigt dazu, aber bietet bereitwillig Propaganda statt Aufklärung:

Seit über 25 Jahren beherrscht das Argument „Rentenerhöhungen gehen zu Lasten der Jungen“, oder krasser „die Alten beuten die Jungen aus“ die Berichterstattung, besser gesagt die Propaganda, in den Medien. Die realen Daten zeigen etwas völlig anderes. Sarkastisch ausgedrückt: „nie waren Rentner so billig wie heute“.

Die Beitragsbelastung ist auf das Niveau
von vor 30 Jahren gesunken, obwohl der Anteil der über 65jährigen in der
Bevölkerung um 40% angestiegen ist.
Diese Absenkung auf 18,6% passierte,
obwohl die Unterdeckung der nicht beitragsgedeckten Leistungen mit fast 35
Milliarden € durch die Decke ging und gleichzeitig die Rücklagen der DRV auf nie
für möglich gehaltene 40 Mrd. € anstieg.

Wer angesichts dieser Daten von zunehmender Ausbeutung der Jungen durch die Alten spricht, betreibt übelste Hetze. Verdrehung der Tatsachen bis zum Gegenteil und kaum Widerspruch in den etablierten Medien. Orwell schrieb in seinem Roman “1984” über die Gehirnwäsche des Big-brother-Regimes: “zu guter Letzt würde die Partei verkünden, daß zwei und zwei gleich fünf sei, und man würde es glauben müssen…”.

Glauben muss man in diesem Land zwar nicht, aber wer die Propaganda von der Ausbeutung der Jungen durch die Alten nicht hinterfragt, landet bereits jetzt schon bei der “Erkenntnis”, daß 2+2=5 sei. Um dem zu entgehen kann man sich immunisieren mit der Methode “Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst” (siehe unter Quellen Pkt. 6).

(Reiner Heyse, 04.01.2020)

 

(*) “Bundeszuschuss” wird hier durchgehend in Anführungszeichen gesetzt, weil die Bundesmittel in keinem Jahr ausreichten, die Ausgaben der DRV für nicht beitragsgedeckkte Leistungen zu kompensieren. Von einem echten Zuschuss konnte in keinem Jahr gesprochen werden.

(**) Als nicht beitragsgedeckt wurden bewertet (detaillierte Auflistung im verlinkten Dokument):

  • Leistungen des Familienlastenausgleichs,
  • die Kriegsfolgelasten
  • die Integration von Vertriebenen und Spätaussiedlern
  • die Bewältigung der deutschen Einheit im Bereich der Rentenversicherung,
  • die Beteiligung an der Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit,
  • die soziale Sicherung von Geringverdienern
  • die Anrechnung von Zeiten einer schulischen Ausbildung.
  • West-Osttransfers – Höherbewertungen
  • Teile der Hinterbliebenenversorgung

 

Quellen/Dokumente:

  1. Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung der nicht beitragsgedeckten Leistungen und der Bundesleistungen an die Rentenversicherung vom 13. August 2004 (Erhebung für 2003).
  2. Nicht beitragsgedeckte Leistungen und Bundeszuschüsse in der allgemeinen Rentenversicherung – DRV März/April 2012 (Erhebung für 2009).
  3. Nicht beitragsgedeckte Leistungen und Bundeszuschüsse 2017 – DRV April 2019 (Erhebung für 2017).
  4. Jährliche versicherungsfremde Leistungen seit 1957 bis 2018 – Teufel-Tabelle (die Berechnungen für die letzten Jahre müssten auf Grund der neuen Veröffentlichung der DRV überarbeitet werden).
  5. Der § 213 SGB VI “Zuschüsse des Bundes” (macht deutlich, wie beliebig die “Bundeszuschüsse” festgelegt und fortgeschrieben werden; die Erhöhung des Betrages um 400 Mio. € für 2019 bis 2022 machen noch nicht einmal 3% der Reformkosten aus 2014, 2017 und 2019 aus).
  6. Das Buch von Albrecht Müller “Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst”; Vor allem die Methoden der Manipulation “4. Verschweigen”, “5. Wiederholen – Steter Tropfen höhlt den Stein” und “14. Experten helfen – zu manipulieren”.